Ein Gespräch mit Dr. Christian Patermann, der als „Vater“ der Bioökonomie in Europa gilt.
Bioökonomie
in der neuen Dekade
Die Bioökonomie gewinnt mehr und mehr an Aktualität. Es geht um die Erzeugung und Nutzung biologischer Ressourcen, um Produkte, Verfahren und Dienst-leistungen im Rahmen eines zu-kunftsfähigen Wirtschaftssystems zu schaffen. Vor fast 15 Jahren wurde der Begriff geprägt, im Wissenschaftsjahr 2020/2021 gibt es zahlreiche Veranstaltungen und Wettbewerbe, um diese Wirtschaftsform zu etablieren. Wir führten ein Gespräch mit Dr. Christian Patermann, der von 1996 bis 2007 als Programmdirektor bei der EU für Biotechnologie, Landwirtschaft und Nahrungsmittel die Bioökonomie wesentlich prägte.
RheinZeiger:
Herr Dr. Patermann, unter der deutschen EU-Ratspräsidentschaft entwickelten renommierte Experten aus Wissenschaft und Industrie im Jahr 2007 ein Expertenpapier, das die Perspektiven einer wissensbasierten Bioökonomie (Knowledge-Based Bioeconomy, KBBE) für die nächsten 20 Jahre skizzierte, das „Cologne Paper“. Die Biotechnologie wurde darin als bedeutender Kern einer zukünftigen Wirtschaft herausgestellt.
Das Papier sollte politische Entscheidungsträger bei der Festlegung von Prioritäten und der Anpassung von Maßnahmen zum Aufbau einer “Bioökonomie” unterstützen. Wichtige Aspekte wurden herausgestellt, u. a. die Bereiche Ernährung, Biomaterialien als Rohstoffe, Energie, Medizin. Da war von schwindenden Ressourcen und dem Klimawandel die Rede. Die Bioökonomie wurde auch als DER Schlüssel bei den globalen Heraus-forderungen gesehen. Die Biotechnologie sollte sich von einer durch Entdeckungen getriebenen Disziplin hin zu einer Ingenieurwissenschaft entwickeln. Die Bundesregierung legte im Januar 2020 ein mit rund 2,4 Milliarden Euro ausgestattetes nationales Förderprogramm „Bioökonomie 2030“ auf. Gerade gab es den Bioökonomie-Gipfel 2020, den dritten nach 2015 und 2018.
Wo steht die Bioökonomie heute, fast 15 Jahre später, ganz global? Was wurde erreicht, was bleibt zu tun?
Dr. Christian Patermann:
Ich darf Sie zunächst etwas korrigieren. Als wir vor ca. 15 Jahren die Bioökonomie in Brüssel aus der Taufe hoben, betonten wir sehr deutlich, dass sie kein Allheilmittel („Silver Bullet“) zur Lösung der sog. Grand Challenges sei, wohl aber u.a. wegen ihrer Nähe zur Nachhaltigkeit große Potentiale aufweise, zu Lösungen beizutragen. Zu Beginn war die Bioökonomie im übrigen eine reine Forschungs-Strategie im Rahmen des 2007 beginnenden 7. Forschungsrahmenprogramms der EU.
Nun zu Ihrer Frage: Bioökonomie ist heute keine bloße Forschungs-Strategie m. Sie hat sich zu einer etablierten, viel diskutierten und global verbreiteten neuen Wirtschaftsform weiter entwickelt. Mehr als 50 Staaten und eine große Zahl von Regionen in aller Welt haben eigene Bioökonomie-Strategien, Aktionspläne oder Roadmaps dazu erarbeitet. Allein im schwierigen Corona-Jahr waren es Deutschland, Costa Rica, die Ostafrikanische Union mit sieben Mitgliedstaaten, Kolumbien und der Freistaat Bayern. Wir können auch erfreulicherweise feststellen, dass die Rolle und das Verhältnis der Bioökonomie im Hinblick zu anderen Zukunftsstrategien, wie Erreichen der Nachhaltigkeitsziele und Umsetzung der Kreislaufwirtschaft weitgehend geklärt und sich verfestigt haben: Allgemein wird anerkannt, dass alle Strategien sich in starkem Maße untereinander bedingen, wobei die Bioökonomie gerade gegenüber der Erreichung der Nachhaltigkeitsziele eine eher „zuarbeitende“ („enabling“) Funktion hat. Auch gibt es in letzter Zeit Anzeichen, dass die Rolle einer verstärkten Nutzung von biologischen Ressourcen als durchaus nützlich bei der Erreichung der Klimaziele nach dem Pariser Abkommen gesehen wird, wenn auch nur ganz allmählich!
Wir haben allerdings auch ein wachsendes Problem: Während Forschung und technologische Entwicklung für eine Bioökonomie weltweit geradezu boomt, bleibt ihre Umsetzung in biobasierte Produkte und Dienstleistungen durch die Ökonomie doch leider häufig zurück. Es gibt erhebliche Defizite in der „Vermarktung“ dieses Wirtschaftskonzeptes in Politik, Wirtschaft, bei Unternehmer und Unternehmen, den Medien und vor allem in der Wahrnehmung der Gesellschaft. Das zu ändern wird allerdings nicht einfacher werden, weil der technologische Motor der Bioökonomie, die Biotechnologie und Lebenswissenschaften, in immer stärkerem Wettbewerb gerade bei Unternehmen und in der Finanzwelt, zur Digitalisierung und Künstlichen Intelligenz stehen. Dies wird schon seit einiger Zeit deutlich bei der Bevorzugung in der Finanzierung von Startups in den Bereichen Digitalisierung, KI, Biomedizin und Biopharmazie gegenüber Startups im Bereich der Biotechnologie und Bioökonomie. Hier wünschte ich mir mehr öffentliche Aufmerksamkeit. Bio ist halt viel komplexer, schwerer verständlicher und langfristiger wirkend als Digit und KI, aber deswegen nicht weniger relevant. Es ist also zwar vieles erreicht, auch wenn man auf den relativ kurzen Zeitraum von 15 Jahren zurückblickt, aber es ist noch viel mehr zu tun.
RZ: Auf dem Bioökonomie-Gipfel 2020 wurde diskutiert, dass ein Expertengremium die Gestaltung einer Nachhaltigkeitspolitik erarbeiten soll. Man
appelliert an die Politik, die Bioökonomie-Entwicklung weltweit weiter zu stärken, insbesondere das Potential von Biowissenschaften und Digitalisierung zu nutzen, Arbeitsplätze in der Bioökonomie
durch neue Bildungsprogramme zu fördern, die Mobilisierung von Finanzmitteln für die Entwicklung der Bioökonomie zu ermöglichen, die Einbeziehung von Industrie und Wirtschaft zu intensivieren,
resiliente Wertschöpfungsketten zu fördern und die Konsumenten durch Information und Anreize viel stärker einzubeziehen – für Vieles muss auch Akzeptanz gefunden werden. Das alles klingt nach
großen Aufgaben. Sie selbst sprachen einmal von der Notwendigkeit einer „Biodiplomatie“.
Ist hier nicht wirklich ganz neues „Denken“ gefragt? Schafft das die Politik, schafft das die Gesellschaft?
CP: Sie haben die Ergebnisse des dritten Bioökonomie-Gipfels in Berlin vom November 2020 mit mehr als 3.000 Teilnehmern aus 80 Staaten zutreffend zusammengefasst. Aber ich darf auch auf eine kritische Bewertung durch den Gipfel hinweisen. Der Gipfel hat die wachsende Komplexität und Diversität in der Aufgaben-stellung und den Zielen, aber auch in der Motivation der einzelnen Bioökonomien, auch in ihrem globalen Erscheinungs-bild, besonders hervorgehoben. Das könne sich in der Post-Corona-Zeit sogar noch verstärken, wenn man beispielsweise auch an die Einbeziehung der Gesundheit, medizinischer Phänomene, der Artenvielfalt und wieder aufgeflammter Probleme wie Hunger und Armut denkt. Gesundheit war im übrigen in dem von Ihnen zuvor zitierten Cologne Papier von 2007 als Teil der Bioökonomie deklariert; die neueren Strategien aus 2020 haben sie zumeist wieder aufgenommen, die USA, die OECD, UK, Südafrika, Japan, Thailand hatten sie nie ausgeklammert.
Diese wachsende Komplexität und Vielfalt der einzelnen Maßnahmen wird eine verständliche Übermittlung der Inhalte der Bioökonomie an eine breite Öffentlichkeit, an die Politik und an einzelne Unternehmen nicht erleichtern. Als möglichen Ausweg wird vorgeschlagen, sich stärker auf konkrete Umsetzung und weniger auf strategische Überlegungen zu konzentrieren, unterstützt durch praktische Beispiele von Produkten und Dienstleistungen, die es immer mehr gibt, wenn auch meist in wirtschaftlichen Nischen. Hierfür gibt es sehr gute Ansätze.
Das neue Denken wird in der Tat gefragt sein und sollte sich besonders aus den „Alleinstellungsmerkmalen“ der Bioökonomie gegenüber anderen bisherigen Wirtschaftsformen herleiten. Diese sind zum Beispiel: in Kreisläufen und Wertschöpfungsketten zu denken und zu handeln, offen zu sein für benachbarte Wissensgebiete und Technologien wie Nano, Digitalisierung und KI, mehr als zuvor systemisch zu denken und zu „bedenken, was hinten rauskommt“ und die Fähigkeit, umzusetzen. Das klingt erstmal sehr trivial, ist aber eine enorme Herausforderung für unser Schulsystem wie auch für die akademische und berufliche Bildung, Ausbildung und Fortbildung.
Ich finde es daher hervorragend, dass die bayrische Bioökonomie-Strategie vom November 2020 als einen der 50 Aktionspunkte die Bioökonomie in die Schulpläne Bayerns
aufzunehmen benennt, und auch die öffentliche Verwaltung systematisch über die Potenziale der Bioökonomie aufklären und unterrichten will. Ähnliches ist auch in der Strategie des Bundeslandes
Baden-Württemberg von 2019 vorgesehen.
RZ: Zur Bewältigung der Ernährung der wachsenden Weltbevölkerung, heißt es, muss die Landwirtschaft ihre Produktion verdreifachen. Wir erleben derzeit eine breite und kontrovers geführte Diskussion über Lebensmittelpreise und deren Entwicklung. Auch bei der Sicherstellung der Ernährung soll und muss es Innovationen geben. Die landwirtschaftliche Pro-duktion soll andererseits bis 2030 ohne Subven-tionen auskommen. Überdies wissen wir heute: Die biologische Vielfalt geht zurück. Weltweit leiden mehr als 800 Millionen Menschen an Hunger.
Wie können wir hier – weltweit und auch in Deutschland – weiterkommen?
CP: Ernährungssicherheit ist und war ein geradezu klassisches Thema der Bioökonomie schon vor 15 Jahren. Es war danach etwas in den Hintergrund getreten, auch wegen der unsäglichen Diskussion vor ca. zehn Jahren zwischen Teller und Tank, „Food versus Fuel“. Mittlerweile ist hier strategisch gesprochen eine gewisse Beruhigung eingetreten, zumal zumindest in Europa die Potenziale der Bioenergie differenzierter gesehen werden als seinerzeit. Andere Kontinente, wie Südamerika und auch Teile Asiens sehen die Zukunft der Bioenergie im übrigen erheblich positiver als viele europäischen Staaten. Festzustellen bleibt auch, dass in der letzten Zeit alternative, meist pflanzenbasierte Proteine eine Renaissance im Rahmen der einzelnen Bioökonomien weltweit erleben, mit starken Impulsen durch Startups! Wir müssen allerdings mit einer Verschärfung der Ernährungs- und Wirt-schaftslage rechnen, die keinesfalls nur klimabedingt ist. Hier kommt auf die Bioökonomie eine neue Herausforderung zu.
RZ: Zu vielen biobasierten Produkten beispielsweise gibt es noch Entwicklungsaufgaben, gefolgt von der Erreichung einer Serienproduktion. Wir reden über Materialien, Energieversorgung, Medizin und auch über Produkte des ganz normalen Alltags. Bei alledem reden wir natürlich auch über Geld, viel Geld. Große Programme wollen bezahlt werden. Und auch Startups sollen mitwirken. Gerade für sie braucht es doch mehr Startkapital und maßgeschneiderte Finanzierungen.
Woher kann das Geld kommen?
CP: Das ist eine ganz wichtige Frage, wo auch neues Denken gefordert ist, zumal sich die Finanzsituation vieler Staaten zukünftig eher verschlechtern dürfte. Deshalb wird es mehr denn je notwendig sein, das durchaus vorhandene private Finanzkapital für die Belange der Bioökonomie zu mobilisieren. Die Aussichten hierfür bei Investoren, beim privaten Kapital, bei private equity, etc. sind sehr gut: „The greening of investment“ ist derzeit sehr gefragt, aber hier müssen die Bioökonomie und ihre Vertreter proaktiv auf die Finanzwelt zugehen. Deshalb habe ich mich hier auch sehr gefreut, dass in der bereits genannten bayrischen Strategie Maßnahmen zur Förderung privater Investoren und Informationen von Investoren vorgesehen sind.
RZ: Deutschland hat seit Ende 2020 einen neuen, nunmehr den dritten Bioökonomierat. Dieses 20-köpfige Gremium soll die Bundesregierung bei der Umsetzung der Nationalen Bioökonomiestrategie beraten und unterstützen. Auch BIO Deutschland ist in diesem Gremium vertreten.
Was ist wichtig für ein solches Gremium? Welche Aufgaben stehen an und wie kann der Bioökonomierat die Themen voranbringen?
CP: Mir steht es als Gründungsmitglied und ehemaligem Mitglied des ersten Bioökonomierates nicht an, den Kolleginnen und Kollegen gute Ratschläge zu erteilen. Aber ich habe eine Bitte: Stellen Sie grundsätzliche Erwägungen hinten an und konzentrieren Sie sich freundlicherweise so schnell es geht auf die Erarbeitung und Umsetzung eines Aktionsplanes der Bioökonomie-Strategie. Die neue deutsche umfassende Bioökonomie-strategie wurde noch vor der Corona-Herausforderung verabschiedet.
RZ: Die Welt leidet unter Corona. Die Biotechnologie hat mit der Entwicklung von Impfstoffen einen sehr wichtigen Beitrag geleistet, der Pandemie zu begegnen. Man konnte Stimmen hören, die sagten, dass es doch gut ist, dass dieses „höher-schneller-weiter“ unterbrochen wurde. Sehr wahrscheinlich werden wir aber in der Post-Corona-Zeit ebenfalls große Aufgaben zu bewältigen haben.
Welchen Beitrag kann hier die Bioökonomie leisten?
CP: Der Beitrag der Bioökonomie sollte an ihre Besonderheiten anknüpfen, die sie von anderen Wirt-schaftsformen unterscheidet. Diese sind, wie teilweise bereits genannt, Denken im System, und nicht nur punktuell, Handeln und Wirtschaften in Wertschöpfungsketten, d.h. zeigen, dass man mit dergleichen sehr gut umzugehen und vor allem die lokale und regionale Wertschöpfung zu schätzen weiß, sich offen und integrationsbereit für benachbarte wissensproduzierende Technologien wie Nano, Info, KI und kognitive Wissenschaften zu zeigen, in der Lage, mit einer Vielzahl von Stakeholdern zu „können“ und schließlich Respekt zu haben vor der Vielfalt anderer Lösungswege. Und hierbei sind und bleiben das Potenzial biologischer Ressourcen und die Prinzipien der Biologie und Wissenschaften weiterhin als Mittelpunkt dieser Wirtschaftsform einer „Biologisierung der Wirtschaft“ zu sehen. Wenn wir dies verdeutlichen können in praktischen Produkten und Dienstleistungs-Beispielen, dann wird die Bioökonomie auch in der jetzt begonnenen neuen Dekade weiter Zukunft haben.
Herr Dr. Patermann, wir danken Ihnen sehr für das Gespräch!
Empfehlenwerte Literatur zum Thema Bioökonomie:
Das System Bioökonomie.
Das Buch ist eine prägnante Gesamtschau auf den Status der Bioökonomie und ihrer zukünftigen Ent-wicklungen. Praktiker aus Wirtschaft und Wissenschaft, auch Gründerinnen und Gründer, haben an diesem Buch mitgeschrieben. Mit einem Geleitwort von Dr. Christian Patermann. Das Buch lädt ein, die Zukunft der Bioökonomie mitzugestalten.
Daniela Thrän, Urs Moesenfechtel, Hrsg:
Das System Bioökonomie
Springer Verlag GmbH Deutschland
1. Auflage Juli 2020
ISBN 978-3-662-60729-9
Gebundene Hardcover-Ausgabe
390 Seiten, Format 17 x 25 cm
84,99 Euro